Pastoralmacht ohne Pastoren

Rassismus ist, wenn man dem anderen wegen seiner Herkunft bestimmte Merkmale zuschreibt. Es ist ebenfalls Rassismus, wenn man bemerkt, dass jemand überraschenderweise diese Merkmale nicht besitzt. Überhaupt ist es rassistisch, wenn man glaubt, Menschen würden Gruppen bilden. Und es ist nun mal so, dass die meisten sich ihre kleinen rassistischen Gedanken machen, von denen sie natürlich niemals zugäben, dass sie sie haben. Diese fiesen kleinen Gedanken kommen einfach so, ganz ungebeten. Zum Beispiel wenn ein Mitbürger mit türkischem Migrationshintergrund jemand die Vorfahrt nimmt. Dann bringt man Dinge miteinander in Verbindung, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, wie zum Beispiel Herkunft und Fahrweise. Doch meistens ist der Gedanke bald auch wieder verschwinden. Anders gesagt, man kann dem Rassismus nicht entkommen, aber der bestimmt auch nicht unser Leben.

Genauso so ist es mit schmutzigen Gedanken, die man gelegentlich hat, wenn man einen attraktiven Menschen sieht. Sie kommen und gehen wieder. Macht uns das zu sexistischen Personen? Ich würde eher sagen, es macht uns zu Menschen. Doch wie wäre es, wenn jemand fordert nicht sexistisch zu sein und damit meint, auch keine schmutzigen Gedanken zu haben?  Das würde bedeuten, dass jeder sich ständig selbst belauern müsste. „Ich habe gerade gedacht, dass die Frau einen schönen Po hat. Ich darf so einen Gedanken nicht zulassen.“ Ist das normal, oder hört sich das nach Zwangsstörung an? Und wäre es nicht auch eine Zwangsstörung, sich ständig damit zu beschäftigen, ob man rassistische Gedanken hegt?

Eine Gruppe in den USA scheint da anderer Meinung zu sein. Sie nennt sich „anonyme Rassisten“ und ist eine Selbsthilfegruppe, um den Rassisten in sich aufzuspüren. (www.kirche-im-wdr.de/nix/de/nc/startseite/programuid/anonyme-rassisten/formatstation/wdr2/) Zitat: „Wir kamen zu dem Glauben, dass nur eine Macht, größer als ich selbst, mich in meiner Menschlichkeit wiederherstellen kann. Damit ich die nicht-rassistische Kreatur werde, als die Gott mich geschaffen hat.“ Dass Gott uns als nicht-rassistische Kreatur geschaffen hat, ist eine Behauptung, die jeder Lebenserfahrung widerspricht. Dass meine Menschlichkeit verschwunden wäre, sobald ich rassistische Gedanken haben, ist ebenfalls zu bezweifeln. Menschen sind eben nicht perfekt, selbst wenn sie von Gott geschaffen worden sind. Und die Hoffnung, den Rassismus so zu überwinden so vergeblich wie es vergeblich ist, sexuelles Begehren grundsätzlich nicht aufkommen zu lassen.   

Schlimmer noch: Der ständige Gedanke, kein Rassist sein zu wollen, wird irgendwann zum Zwangsgedanken. Während nämlich der normale Rassist gelegentlich einen rassistischen Gedanken hat, der auch wieder verschwindet, wird der „anonyme Rassist“ ständig mit seiner Angst umgehen müssen, keine rassistischen Gedanken haben zu dürfen, was ihn an die Gruppe der anonymen Rassisten bindet. Anders ausgedrückt, wenn man das Thema Rassismus zum Dauerthema macht, verschwindet der Rassismus nicht, sondern wird perpetuiert. Genau so wie der schmutzige Gedanke sich immer weiter verstärkt, wenn man ihn zu unterdrücken sucht.  

Das führt zu dem Thema Priesterherrschaft, die heute die Herrschaft der Aktivisten ist. Wer denkt, Rassismus dürfe es überhaupt nicht geben, auch wenn er selber ab und an Dinge denkt und vielleicht sagt, die ein Antirassist nicht denken oder sagen darf, der liefert sich den Aktivisten aus. Diese sind geübt darin, Rassismus überall aufzuspüren. Und so wie Priester vor wenigen Jahren noch fragte „Hast Du schmutzige Gedanken?“, so sorgen Aktivisten für ein dauerhaft schlechtes Gewissen, indem sie feststellen, dass da wieder irgendwas rassistisch aus dem Ruder lief. Wer diese Herrschaft nicht dulden will, der sollte sich eingestehen, dass die Forderung anderer nach Perfektion nichts anders ist als der Versuch, Herrschaft auszuüben.

Michel Foucault nannte übrigens die Technik der Macht über andere durch schlechtes Gewissen Pastoralmacht: Es ist die Priesterherrschaft, die erlangt wird durch Unterwerfung des Gläubigen, indem der Gläubige zum Subjekt gemacht wird, der für seine Gedanken verantwortlich ist, während der Priester diese Gedanken sozusagen fördert, indem er sie zum Dauerthema macht. Dieses Subjekt „erkennt“ seine Schuld, die ihn jedoch hoffnungslos an den Prieser kettet. Denn nur der Priester verspricht Vergebung und Erlösung. Diese Pastoralmacht ist nun in den Händen der Aktivisten, die keine Erlösung versprechen, sondern nur eine auf Dauer angelegte Übertribunalisierung, ohne Aussicht auf Vergebung. Denn in ihrer Welt gibt es keinen Himmel und keinen Gott, sondern nur Rassisten und Antirassiten. Und so bleibt nur das Subjekt mit seiner Schuld, die in immer tieferen Schichten gefunden werden muss. Der Aktivist wird dabei zum Dauerankläger, der kein Gewissen hat, sondern Gewissen ist (Odo Marquardt).

Den Rassismus auf dieser Grundlage zu besiegen, ist so vergeblich wie der Versuch mit einem löchrigen Einer das Meer zu leeren. Aber das ist ja auch nicht das Ziel der Übung. Was man jedoch bedenken sollte: Der Ansatz wird zu nichts Gutem führen. Denn die Aktivisten müssen die Dosis des Antirassismus ständig erhöhen, weil die Gesellschaft insgesamt immer weniger rassistisch ist. Ob das auf Dauer gutgeht, darf bezweifelt werden. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand sagt: Wenn ich sowieso nichts richtig machen kann, dann soll mir der ganze Antirassismus gestohlen bleiben. Was bei den Priestern 1000 Jahre brauchte, könnte also bei den neuen Prälaten schon viel eher vorbei sein: Die Macht über die Gläubigen.

Bild von Wengen auf Pixabay