Ich empfinde es als äußerst problematisch, dass mein Nachbar ein großes Auto fährt, obwohl er keinen ertragreichen Job hat. Mein Nachbar dagegen ist empört darüber, dass schwarze Schauspieler keine Oscars bekommen. Eine weitere der größeren Ungerechtigkeiten: Ein Kollege von mir ist hässlich. Deswegen hat er Nachteile. Und was soll die fünfzigjährige Frau von gegenüber sagen. Sie spürt jeden Tag, dass die Männer sie anders ansehen als früher, obwohl sie sich innerlich wie eine junge Frau fühlt. Ist das fair? Man sieht, die Ungerechtigkeit lauert überall, wenn wir nur lange genug suchen. Und wenn dann das Gefühl nagt, dass das Leben unfair zu einem ist, dann wird man noch zu allem Überfluss aggressiv.
Und was wäre nun die Lösung? Nun, im Falle meines Nachbarn wäre es angemessen, wenn er sein Auto verkauft und sich ein kleineres zulegt. Ich fühlte mich jedenfalls damit besser. Was nun die schwarzen Schauspieler betrifft, so könnte man ja eine Quote einführen. Sagen wir 30 % aller Oscars gehen immer an Schwarze. Oder man führt einen Oscar für Schwarze ein. Dann läge die Quote bei 100 Prozent. Im Falle der hässlichen Menschen könnte man Schönheitsoperationen von der Krankenkasse bezahlen lassen. Und ältere Frauen sollten ein Anrecht auf bewundernde Blicke haben. Vielleicht könnte man da mal ein Gesetz verabschieden.
All diese Lösungen sind aber am Ende leider keine. Und das wissen wir. Denn mit nach jeder Beseitigung von Ungerechtigkeit wird bald eine neue entdeckt. Man zählt bereits jetzt 20 Ungerechtigkeitsformen. Ich wäre nicht überrascht, würde man noch mehr Unfairness finden.
Natürlich wäre es eine Gefahr, wenn man das Thema ganz ignorierte. Ein wenig muss es schon gerecht zugehen. Es ist aber ebenso eine Gefahr, wenn man nur darauf schaut, ob und wo es ungerecht zugeht und ob und wie man selbst ungerecht behandelt worden ist. Denn so wie Michael Kohlhas wegen seines Gerechtigkeitstriebs am Ende ganze Landschaften verwüstet, so könnte ein überzogener Gerechtigkeitsanspruch die Gesellschaft zerstören. Und vor allem wird es zu einer Gefahr, wenn jeder unter Gerechtigkeit etwas anderes versteht. Nietzsche meinte: „Jedem das Seine geben: Das wäre die Gerechtigkeit wollen und das Chaos erreichen.“ Wenn wir das Chaos nicht wollen, dann sollten wir uns davon verabschieden, dass es in der Welt vollkommen gerecht zugehen könnte und die Welt zu uns gerecht wäre. Im Gegenteil sollte man wieder lernen mit einer gewissen Unschärfe zu leben, damit die Gerechtigkeit nicht am Ende zu unserer Nemisis wird.
Kü
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