Identität als Last

Wenn man vor 500 Jahren einen Bauern nach seiner Identität gefragt hätte, dann wäre die Frage vermutlich nicht verstanden worden. Fest eingebunden in ein soziales Gefüge, gab es keine Möglichkeit, darüber nachzudenken, wer man denn eigentlich noch sein wollte außer Bauer. Dafür machte man sich vielleicht Gedanken darüber, wie eine Hexe beschaffen sein könnte, charakterlich und so. Der Blick auf sich selbst jedoch war eher trüb.

Heutzutage beschäftigt man sich fast ausschließlich mit sich selbst, und zwar bei gleichzeitiger Erweiterung der Möglichkeiten diese oder jene Person zu sein. Da hängt natürlich das Eine mit dem Anderen zusammen. Die denkbaren Ichs sind jedenfalls Legion. Daher das Glück, das natürlich auch ein Unglück ist, sich ständig die Frage vorzulegen, wer man denn eigentlich ist oder sein möchte. Sozusagen der Zwang, sich entwerfen zu müssen.

Um diese Frage zu beantworten, gibt es ein paar Grundsätze zu beachten. Der wichtigste lautet: Sei anders! Es ist zum Beispiel stinklangweilig, sich als heterosexuell zu konstruieren. Viel interessanter wäre es, pansexuell zu sein. Ebenfalls öde ist es, niemand in der Familie zu haben, der Migrationshintergrund hat. Rein deutsch zu sein, ist nämlich out. Schließlich noch die Berufsfrage. Elektriker geht gar nicht. Aber was ist mit Sozialpsychologie? Ja, diese Identität hat was. Die pansexuelle junge Frau mit französischen Wurzeln im Auslandssemester in New York, das ist schon mal eine Nummer.

Allerdings gibt es da immer noch dieses nagende Gefühl, man hätte doch lieber Kunst studieren sollen. Immerhin hat man da diese Ader. Und dass man nun seit zwei Jahren mit einem Typen zusammen ist, beschädigt das Selbstbild des sexuell Fluiden. Schließlich stellt sich noch heraus, dass der französische Opa im Algerienkrieg Gräuel begangen haben soll. Bitter.

Ich will jetzt um Gottes Willen nicht dem mittelalterlichen Ständestaat das Wort reden. Aber wie es scheint, hat Freiheit eben auch seine Schattenseiten. Denn wenn man nicht in eine Gesellschaft hineingeboren wird, sondern dem Zwang unterliegt, sich selbst zu entwerfen, dann kann das schon ins Auge gehen. Da darf nämlich nichts schief gehen, weil man ja nur ein Leben hat. Und man muss schön darauf achten, dass man die richtigen Schwerpunkte setzt. Manche sind von dieser Aufgabe überfordert und bekommen Depressionen. Andere nehmen die Herausforderung an, scheinen aber trotzdem irgendwie verwechselbar zu sein. Es ist am Ende eben eine Last, eine Identität zu besitzen, die einerseits Salienz zum Ziel hat, aber dieses Ziel nicht erreicht, weil Einzigsartigkeit gleichzeitig von Millionen gesucht und daher nicht gefunden wird. Am besten ist es da wohl, wenn man akzeptiert: Wer man ist, entscheidet auch heute die Gesellschaft. Nur ist es jetzt die Gesellschaft der Singularitäten.

Herrn Müllers neue Kleider

Humor ist vielfältig. Man erinnert sich an den Blauen Engel. Ein Lehrer, der sich autoritär aufspielt, verfällt einer Sängerin und macht sich zum Narren. Das Komisch-Tragische daran ist, dass von einem Moment auf den nächsten der Mensch lächerlich wird, wenn er aus der Rolle fällt. Uns wird in dem Moment unbewusst bewusst, dass die Fassade gefährdet ist und vielleicht lachen wir darüber, wenn andere Haltung verlieren, weil wir erleichtert sind, dass es uns (noch) nicht passiert ist, sondern einem Dritten. Manche beginnen fangen dann an und meinten, darüber dürfe man nicht lachen. Denn sie empfinden es als tragisch, wenn andere als Depp dasteht. Wir selbst fürchten ja schließlich auch den Verlust der Fassade und das Urteil der anderen. Das solle man wohl solidarisch sein, denken die Gutmeinden.

Ein wenig anders verhielte es sich, wenn ein Lehrer am Montag nach den großen Ferien in Frauenkleidern in die Schule käme. Herr Müller, Deutschlehrer der 5a, trägt plötzlich Makeup, Pumps und passend zu Jahreszeit ein luftiges Sommerkleid in grellen Farben. So tritt er dann also vor die Eltern am ersten Elternabend Ende August. Dazu erklärt uns der Direktor der Schule, der ebenfalls anwesend ist, dass Herr Müller nun Frau Müller sei. Und so hätten wir Frau Müller auch anzureden. Täten wir es nicht, dann drohte uns eine Strafe. Falls jemand dieses Beispiel für konstruiert halten sollte, der sollte sich mit dem Thema „Deadname“ beschäftigen. So ist es neuerdings strafbar, eine Person, die einen männlichen Vornamen hatte, diese weiterhin mit diesem zu bezeichnen, wenn dies von dieser Person nicht gewünscht wird.

Da sitzen wir nun im Klassenzimmer und sind gelähmt. Das mit dem Namen ist ja noch die einfachste Übung. Denn darüber hinaus wird von uns nicht direkt, aber dafür deutlich, verlangt, dass wir das nicht komisch finden dürfen. Aber so fühlen wir gar nicht. Eigentlich möchte man lachen, denn da fällt jemand aus der Rolle. Andere möchten vielleicht weinen, weil ihnen Müller leid tut. Weil man jedoch selbst Angst hat, man würde als Deadname-Verbrecher kenntlich, erstarrt man innerlich. Jeder für sich, denn die kollektive Lüge macht bekanntlich einsam.

Doch wenn man nun so tut, als wäre es das Natürlichste von der Welt, dass Müller im Frauenfummel antritt, und als Frau bezeichnet werden will, dann wird es auf der nächsten Ebene komisch oder tragisch. Die Komik oder Tragik besteht nämlich auch darin, dass man nun ein Schauspiel aufführt, dass für den Beobachter klar als Schauspiel kenntlich ist, aber auf keinen Fall als Schauspiel bezeichnet werden darf. Herr Müller tut so, als ob er eine Frau wäre, und wir tun so, als ob wir das glaubten.

Kommt uns das bekannt vor? Ich jedenfalls glaube, dass die Geschichte von dem Kaiser und seinen neuen Kleidern wieder aufgeführt wird. Und ganz so wie in der Geschichte kommt es auch hier zu einer Auflösung durch ein Kind. Denn Hansi Großmann, bekannt für sein vorlautes Mundwerk, verkündet, bevor man ihn stoppen kann: Aber Herr Müller, sie sind doch gar keine Frau! Sie haben sich doch nur als Frau verkleidet!!!

Machen Sie sich jetzt bitte keine Sorgen um Hansi. Denn Kinder dürfen auch weiterhin die Wahrheit sagen, ohne dass ihnen eine Geldstrafe oder gar Gefängnis droht. Nur wir Erwachsenen müssen wohl lernen, uns noch besser zu verstellen und unsere Kinder im Lügen zu schulen.

Christian Kümpel

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Bei den sieben Zwergen

Disney, so hört man, wird einen Film drehen, bei der die Rolle des Schneewittchens mit einer Latina besetzt werden soll. Und zwar aus Gründen der Diversity. Diversität meint den bewussten Umgang mit der Vielfalt in der Gesellschaft. Und das kriegt jetzt auch die Märchenwelt zu spüren, nachdem immer mehr Mittelalter-Filme von Schwarzen bevölkert werden, obwohl es damals vermutlich keine große Community in Europa gab. Auch bei den Gebrüder Grimm war Schneewittchen irgendwie weiß geframt. Immerhin wurde weiß dereinst mit vornehm und hochherrschaftlich assoziiert. Die Erinnerung daran scheint zu verblassen, wenn mir dieses Wortspiel erlaubt ist. Nun darf also auch eine etwas stärker pigmentierte junge Frau Schneewittchen sein. Und da ja sowieso kaum einer noch weiß, wie Schnee aussieht, kann Schneewittchen durchaus auch aus Mexiko oder Guatemala kommen.

Doch wie das immer so ist mit den armen unterdrückten Minderheiten, da gönnt einer dem anderen nicht die Butter auf dem Brot des gesellschaftlichen Fortschritts. Nun hat sich der Schauspieler Peter Dinklage, selbst 1,35 cm klein, gemeldet und sich darüber aufgeregt, dass die Geschichte mit den sieben Zwergen weiterhin rückwärtsgewandt sei. Er meinte damit die Figuren der Zwerge, die seiner Meinung nach in einer Höhle lebten und Zwergen-Klischees verbreiten. Und Disney zeigt sich in der Tat zerknirscht. Man wolle deshalb bei den sieben Helden eine andere Herangehensweise. So vage reagiert Disney auf die Vorwürfe. Wir dürfen gespannt sein, was dabei rauskommt. Vermutlich nichts Interessantes. Hier sei allerdings festgehalten, dass die Zwerge in dem Film von 1937 nicht unbedingt die unsympathischsten Charaktere sind. Ihr Heim ist ordentlich, sie sind fleißig und nachdenklich. Schneewittchen dagegen war eher geistig minderbemittelt. (Wann gehen Frauen eigentlich dagegen mal vor?) Ich fand die Zwerge jedenfalls immer toll. Aber wer weiß, wie Dinklage einen Zwerg sehen möchte? Immerhin war er in dem Film „Game of Thrones“ als Gnom-Figur nicht sehr nett.

Apropos Klischee. Da gibt es noch einiges aufzuarbeiten. Denn ist es kein Klischee, eine etwas ältere Frau, die in eine Midlife-Krise gekommen ist, vorzuführen, indem man sie ein jüngeres und schöneres Schneewittchen hassen lässt? Wie wäre also eine Schwiegermutter, die ihr hilft, erwachsen zu werden und sich als perfekte Patchwork-Mama erweist?  Und diese Geschichte mit dem Prinzen ist ja wohl kaum haltbar. Dieses Mann-rettet-Frau-Klischee wollen wir nicht mehr sehen. Wenn es sein muss, dass es zu einer Lebensmittelvergiftung kommt (gespritzte Äpfel sind ungesund), wäre es viel näher an der heutigen Zeit, eine Ärztin käme vorbei und nähme einen Kehlkopfschnitt vor. Am Ende muss wohl die ganze Geschichte neu geschrieben und anders besetzt werden, damit sie in unsere wunderbare Zeit passt, die alte Stereotype durch neue ersetzt. Dass unsere Epoche viel besser sei, als die ort- und zeitlose Zeit, in der Schneewittchen noch weiß und unschuldig, die Zwerge noch klein und freundlich und die Schwiegermutter böse und abgründig waren, ist durchaus möglich. Allerdings besteht sie ebenfalls fast nur noch aus trivialem postmodernem Kitsch und wird vermutlich nicht ganz so dauerhaft sein wie die Grimm´schen Märchen und ihre Figuren. Märchen sind eben aus der Zeit gefallen. Das lässt sie jede Epoche überdauern.

Christian Kümpel

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Wie produktiv ist eigentlich Antirassismus?

Seit Jahren arbeiten Antirassisten daran, dass es weniger Rassismus gibt. Doch sie erklären uns jedes Jahr, dass es immer schlimmer wird. Wie das? Man stelle sich vor, alle Nachbarn würden einen ständig darauf hinweisen, dass man die falsche Einstellung zu der Automarke BMW hätte, obwohl man eigentlich keine Meinung hat. „Was hast Du gegen den Dreier? Der ist doch gut. Du bist ein richtiger BMW-Muffel. Du merkst es bloß nicht. Das ist ja schon strukturell, Deine Vorbehalte gegen die Marke aus München. Und ich vermute, deine Vorurteile haben eine lange Geschichte. Hat sicher was mit deinem Vater zu tun.“ Langsam, aber sicher, fängt man an, der Marke zu misstrauen, obwohl man ursprünglich vielleicht eher vorbehaltlos war. Vielleicht kriegt man sogar eine Wut auf sie. Warum? Vermutlich, weil man diese ständige belehrende Kritik hört und mit BMW verbindet. Da sagt man sich am Ende: Mit dem Auto stimmt doch was nicht. So hat man am Ende die Vorbehalte produziert, gegen die man vorgeblich vorgehen will.

Wer wirklich möchte, dass man dem Auto eine Chance gibt, der wird es anders anfangen. Man kommt mal mit einem Wagen vorbei und lädt zu einer kleinen Fahrt ein. Dabei lässt man den Fahrer in Ruhe, damit er sich selbst ein Urteil bilden kann. Ist der Wagen gut, wird man schon von selbst darauf kommen. Ansonsten verbreitet man positive Vibes statt bitterer Vorwürfe. Allerdings kann es natürlich sein, dass er trotzdem zu einem anderen Schluss kommt. Damit muss man dann leben.

Die ständigen Belehrungen helfen eben wenig. Zum einen hat man schnell den Verdacht, der andere wolle sich aufspielen. Und zum anderen fängt man an, dass Thema zu meiden, weil man es nur mit Negativem verbindet. Besonders wird man demjenigen ausweichen, der einem gegenüber ständig als Lehrer und Erzieher auftritt. Wenn man aber nicht anders kann, dann wird man anfangen, zu heucheln: „Ja, auch ich bin ein großer BMW-Fan.“ Dass man dann beginnen muss, dem anderen etwas vorzumachen, wird einen noch mehr erbittern. Da wird man dann heimlich zum BMW-Hasser.  

Wenn also der Pseudo-Antirassismus nichts bringt, was hilft? Watzlawick, so glaube ich mich zu erinnern, meinte, dass man Vorurteile ausräumt, indem man auf Menschen zugeht und ihnen hilft, Erfahrungen zu machen, die ihre Vorurteile widerlegen. Dabei gilt das Prinzip, dass positive Gefühle beim Lernen besser sind als negative. Dass es allerdings auch vorkommen kann, dass Vorurteile bestätigt werden, ist allgemeines Lebensrisiko. Doch warum wird dieser Ansatz nicht verfolgt und das Schimpfen eingestellt? Vermutlich, weil nicht jeder so unbedingt will, dass der Rassismus wirklich bekämpft wird. Immerhin könnte sich dann so mancher nicht mehr aufspielen, weil er eine Moralkeule gefunden hat, mit der er jeden Tat um sich schlagen kann. Wenn ein Löli sie einmal hat und ihre Macht spürt, wird er sie nämlich ungern wiederhergeben.

Christian Kümpel

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Es lebe der Unterschied!

Es gibt viele Spielarten in der Frauenbewegung. Eine heißt Differenzfeminismus. Differenzfeministen gehen davon aus, dass es eine natürliche Differenz zwischen den Geschlechtern gibt. Und sie verwahren sich dagegen, dass man an Frauen männliche Maßstäbe anlegt. Frauen seien ihrer Ansicht nach auf der psychologischen Ebene einfühlsamer, sanfter und mütterlicher als Männer. Auf der physiologischen würden auch Unterschiede bestehen, zum Beispiel haben nur Frauen eine weibliche Eizelle.

Während einige die Unterschiede zwischen Männern und Frauen negieren, feiert der Differenzfeminist sie. Insbesondere will man eben als Frau nicht so sein müssen wie ein Mann, um Gleichberechtigung zu erreichen. Drum erklärt man die weibliche Art für erstrebenswert. Damit verbunden ist dann auch eine Essentialisierung des Männlichen, die den Herren vielleicht nicht immer so gefällt. Männer wären aggressiv, rücksichtslos und herrisch.

Das Problem mit dieser Spielart des Feminismus ist – man ahnt es schon – dass es ja auch Männer gibt, die einfühlsam, sanft und mütterlich sind, wenn mütterlich aufopfernd oder uneigennützig heißt. Ebenfalls fragwürdig ist es, die Männer schlecht zu machen, um sich selbst als umso großartiger darzustellen. Schließlich soll es ja auch schon Frauen gegeben haben, die keine Engel waren. Ilse Koch ist so ein Beispiel. Koch war die Frau des Kommandanten von Buchenwald. Ob alle Geschichten stimmen, die man über sie erzählt, will ich nicht bewerten. Aber sie war fraglos ein Menschenschinder, und es hat ihr Spaß gemacht, Häftlinge zu quälen. Wäre das dann unweiblich?

Grundsätzlich ist es mir dennoch sympathisch, wenn Frauen sich als Frauen positiv beschreiben und kein Problem mit ihrem Geschlecht haben. Auch wenn es wohl nicht ganz so einfach ist mit den Zuschreibungen. Immerhin gibt es schon genug Leute, so hat es den Anschein, die kommen nicht damit klar, Männer zu sein. Und was nun die Körperlichkeit besteht, da kann ich den Frauen überhaupt nicht widersprechen. Es ist eben ein Fakt, dass nur Frauen Eizellen haben. Verstehen kann ich auch, dass sie sich ärgern, wenn Männer behaupten, sie wären Frauen, weil sie sich so fühlten.

Das mal weiter gedacht: Jemand könnte ja auch behaupten, weil er das in sich fühlt, er wäre Christian Kümpel. Das würde ich geradezu als gefährlich empfinden. Denn dann würde er ja in meinem Bett neben meiner Frau schlafen und überhaupt alles machen dürfen, wozu nur Christian Kümpel berechtigt ist. Wenn er von den Autoritäten sogar als Christian Kümpel anerkannt würde, weil sie sich auf den Standpunkt stellen, Christian Kümpel ist ein soziales Konstrukt, das von jedermann mit Recht konstruiert werden könne, könnte man es ihm kaum verwehren. Vermutlich wäre dann schnell der Punkt gekommen, wo ich Gewalt für möglich hielte, um mich und meine Familie zu schützen. Hört sich das verrückt an? Sicher für die meisten Frauen auch, wenn Männer ihnen erzählen, dass sie Frauen wären und nun mit ihnen Frauensachen machten wollten.

Das Problem ist eben, das Wort Frau macht keinen Sinn mehr, wenn Männer nach Belieben auch Frauen sein können. Und ein weiteres Problem ist, dass Männer anfangen könnten, alle Grenzen, die Frauen schützen, nun einreißen könnten, weil sie unüberprüfbar ihr Frau-Sein behaupten und sie verlangten, dass dies allgemein anerkannt wird. Dass Frauen hier Gefahren sehen und sich schützen wollen, ist vollkommen verständlich. Darum stehe ich auch auf Seiten des Differenzfeminismus. Denn auch wenn er nicht in allem Recht hat, so ist sein Grundgedanke der, dass man Dinge nicht ins Belieben einer Gruppe oder eines Einzelnen stellen kann, richtig, und zwar nicht nur, weil es eine Realität gibt, die nicht wegzufühlen ist. Es zu tun, wäre äußerst bedrohlich für die meisten von uns.

Christian Kümpel

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Auf der falschen Seite der Geschichte

“Man kann sein biologisches Geschlecht nicht ändern!”
Du hast Angst, dass Du auf der falschen Seite der Geschichte landest, wenn Du das behauptest?
Da könntest Du Recht haben und es kann schnell gehen.

J.K. Rowling die millionenschwere Harry-Potter-Erfinderin ließ sich von der Medienwelt noch vor wenigen Jahren als radikale Feministin feiern. Nachdem sie diesen Satz ausgesprochen hatte, machte man ihr erst klar, dass sie nun keinen Platz mehr auf der medial gefeierten “richtigen Seite der Geschichte” habe und im Anschluss bekam sie Morddrohungen.
Wenn Du Angst hast auch bald auf der falschen Seite der Geschichte zu landen, nur weil Du am gesunden Menschenverstand festhältst: Deine Sorge ist berechtigt. Das Karussell dreht sich immer schneller …

Struktureller Skandal

Ein handfester Skandal ist ein Ärgernis, welches unendlich viele Menschlein überglücklich macht, so Gert W. Heyse. Doch was macht eigentlich einen Skandal aus?  Der Skandal braucht zunächst einmal einen Hintergrund, auf dem sich der Skandal abspielt. Der Hintergrund wäre eine bestimmte Einstellung der Gesellschaft zu einem Verhalten. Frauen schlecht zu behandeln, weil sie Frauen sind, wäre jedenfalls ein Skandal, weil in unserer Gesellschaft Frauen geachtet werden. Wenn dann ein Weinstein-Fall oder ein Reichelt-Fall durch die Presse gehen, dann wird bestätigt, was man schon wusste: Die Gesellschaft ist gegen Sexismus. Dass es in bestimmten Kreisen ein Schweigekartell gibt, steht auf einem anderen Blatt.

Was solche Skandale allerdings nicht beweisen: Die Gesellschaft ist sexistisch. Denn in einer sexistischen Gesellschaft wäre es ja kein Skandal, dass ein Mann Dinge tut, die man als Skandal begreift. Die Identitätspolitik besteht allerdings darauf, dass die westliche Gesellschaft sexistisch wäre, weil man glaubt, von einem einzelnen Fall auf die Gesellschaft schliessen zur dürfen. Aber eine Gesellschaft, in der Frauen wirklich systematisch in sexistisch betrachtet werden, gibt es diese Skandale gar nicht. Dort wäre es ja normal, die Frau schlecht zu behandeln. Und genau diese Gesellschaft könnte man dann als strukurell sexistisch bezeichnen, gerade weil es dort die Skandale nicht gäbe.  

Skandale sind also nicht schlecht. Im Gegenteil. Sie sind vermutlich notwendig, um an die allgemeinen Standards zu erinnern, wobei man natürlich auch mal fragen sollte, wer der Skandal-Gatekeeper ist. Aber sie sind jedenfalls nicht Ausdruck des strukturellen Sexismus, wie behauptet wird, sondern Ausdruck dessen, dass es eben keinen systematischen Sexismus gibt. Und so ist es ja wohl klar, dass in einer rassistischen Sklavenhaltergesellschaft ein Mord an einem Schwarzen durch einen Polizisten kein Skandal gewesen wäre. Auch das kann er nur in einer Gesellschaft sein, die nicht strukturell rassistisch ist, in der es allerdings rassistisches Verhalten im Einzelfall geben kann. Ich weiss schon, dass ID-Fans das nicht so sehen koennen. Immerhin würde ihnen sonst das Geschäftsmodell wegbrechen. Darum werden sie weiterhin Skandale als Beweis für ihre Weltsicht interpretieren müssen und entsprechend viele produzieren.

Christian Kümpel

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Wen befällt die Identitätspolitik?

Bestimmte Keime sind höchst ansteckend, wie wir jetzt wissen. Doch ist der eine mehr und der andere weniger gefährdet. Woher kommt das? Fragen wir mal versuchsweise, welche Voraussetzungen man haben muss, um schneller dem Virus der Identitätspolitik zu erliegen.

Zur Risikogruppe gehörten sicher zunächst einmal die Besserwisser. Befallene tadeln ständig und wollen zwanghaft anderen Bescheid geben. Gerne auch ungefragt. Und in der Tat hört man von den Identitätspolitkern ständig Kritik, allerdings wenig Skepsis, was die eigenen Thesen betrifft. Besserwisser müssen deshalb besonders aufpassen, wenn sie es mit Identitätspolitik zu tun haben, denn der Keim liebt diesen Wirt.

Aber auch die Selbstgerechten sind bedroht. Selbstgerechtigkeit besteht darin, anderen Boshaftigkeit zu unterstellen, während man sich selbst für einen Engel hält. Identitätspolitik ist gerade für den Selbstgerechten sehr gefährlich. Denn Selbstgerechte brechen heute wie besessen den Stab über Vergangenheit und Gegenwart, ohne noch erkennen zu können, dass man Maßstäbe anlegt, die auch nur ein historisches Produkt sind. Man wird dadurch also in gewisser Weise blind für seine eigene Bedingtheit und fängt an, auch Menschen, die einem nahestehen, mit den Symptomen schwer zu belasten.

Eng verwandt mit diesem Typus ist der Größenwahnsinnige. Er hält sich für Ankläger und Richter, die in einer Person zusammenfallen, indem er die Gesellschaft als strukturell rassistisch bezeichnet und gleich darauf als hoffnungslosen Fall verurteilt. Er tut dies vermutlich auch, um nicht selbst verurteilt zu werden, frei nach dem Motto: Wer richtet, kann nicht gerichtet werden. Auch für ihn gilt es, besonders vorsichtig zu sein. Denn der Großenwahnsinnige sitzt in der Petrischale, in der der Keim hervorragend gedeiht. In ganz schlimmen Fällen fängt man an, sich für eine Art Weltenrichter zu halten.

Personen, die ihre Überempfindlichkeit kultivieren, müssen ebenfalls aufpassen. Sie sehen in allen Äußerungen den möglichen seelischen Schaden, der angerichtet wird, besonders bei ihnen selbst, statt sich mal zu fragen, warum sie so empfindlich sind. Schlimmer noch, sie wollen die Redefreiheit einschränken, um ja nicht mal belastet zu werden. Und natürlich entscheiden nur sie allein, was belastend sein könnte. Das sie andere mit ihrer Überempfindlichkeit anstrengen, kommt ihnen nicht in den Sinn, denn sie drehen sich nur um sich selbst.

Und was ist mit dem Ohnmächtigen? Der Ohnmächtige hat normalerweise nicht viel zu melden. Aber wenn er andere als Rassisten, Sexisten oder Faschisten denunzieren kann, dann tut er das, um an der Macht teilzuhaben. Das schöne Gefühl, klügere und mächtigere vorzuführen, das ist ihm ständige Versuchung. Die Identitätspolitik bietet ihm da viele Anlässe.

Nicht vergessen sollte man auch den Opportunisten, der nicht anders kann, als sich immer an der Macht zu orientieren. Viele machen sich die Forderungen der Identitätspolitik zu eigen, weil sie denken, dass die Verhältnisse nun man so sind, zum Beispiel an der Universität. Da schwimmt man dann mit dem Strom. Manchmal solange, bis man fälschlicherweise glaubt, selbst die Richtung bestimmen zu können. 

Natürlich sind die Ursachen für Identitätspolitik vielgestaltig. Aber ID muss auf charakterlich geeignete Menschen treffen, um seine volle Wirkung zu entfalten. Diejenigen, die skeptisch sind, auch sich selbst gegenüber, gehören sicher nicht zu den typischen Opfern der ID-Pandemie. Sie genießen eine gewisse Immunität. Dass es, wie behauptet wird, demnächst einen Impfstoff gegen ID geben soll, ist nicht wahr. Doch jeder, der sich kritisch mit Ideen, auch denjenigen, die ihn befallen haben, auseinandersetzt, hat eine gute Chance auf Immunität. Ich wünsche weiterhin gute Gesundheit.  

Christian Kümpel

Bild: PIxabay

Warum reagiere ich so trotzig?

Was will es mir denn, wenn jemand meint, die Gesellschaft sei strukturell rassistisch? Da könnte ich doch mit den Achseln zucken. Auf einer sachlichen Ebene würde ich sogar entgegnen, dass solche Behauptungen so gehaltvoll sind wie die Ansicht, Deutschland wäre von Aliens unterwandert. Man kann immer Hinweise finden für alles Mögliche, für jede auch noch so abwegige Theorie, wenn man nur will, indem man bestimmte Ereignisse überbetont und verzerrt. Anders gesagt: Merkwürdige Behauptungen sollten als solche bezeichnet und zurückgewiesen werden.

Doch da ist natürlich auf der Gefühlsebene, auch die Wut, weil hier eine Ungerechtigkeit begangen wird. Deutschland und die Deutschen leben mit vielen Migranten in einem Land, das sich seit 1945 vollkommen verändert hat. Im Großen und Ganzen kommt man gut miteinander aus. Dabei mag es durchaus sein, dass es Rassismus gibt. Aber strukturell? Viele Migranten bekommen Chancen, die sie in ihrem Heimatland niemals hätten bekommen können. Dennoch heißt es: Sie alle seien Opfer des strukturellen Rassismus in Deutschland. Das ist nicht nur Unsinn, das ist auch unfair.

Und dann ist man auch schon beim Thema Frustration. Immerhin hat man sich in diesem Land doch bemüht, indem man das Thema Rassismus in all seinen Schattierungen aufgegriffen hat, indem man in der Schule und an den anderen Lehranstalten immer wieder die Gleichheit der Menschen und den Humanismus als gesellschaftliches Ziel nicht nur proklamiert, sondern auch gelebt hat. Doch die Identitätspolitiker sagen mir – aus Gründen die natürlich zu hinterfragen wären – alles zu wenig und ungenügend. Und vor allem eben: Alles strukturell rassistisch verseucht. Im Grunde ist Deutschland also ein hoffnungsloser Fall. Na wenn das so ist…  

Da regiere ich dann mit Trotz, mit dem Gefühl, dass es vergeblich ist, zu erklären und zu verstehen. Sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich bleibe bei meiner Position und verzichte auf weiteres Zuhören. Laut Wikipedia ist der Trotz empfindende Mensch jemand, der sich in einem Zustand des inneren Widerstandes gegen die soziale Umwelt befindet. Da sagt man sich: Wenn sie ihn haben wollen, dann bekommen sie ihn, den widerständigen Trotz! Und dann verschließt man die Ohren und Augen.

Das heroische Gefühl, Widerstand zu leisten, und sich keine Meinung aufdrücken zu lassen. Einfach unbezahlbar. Allerdings sollte man auch nicht übertreiben. Aus Trotz nun das Phänomen Rassismus zu leugnen, das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Und man liefe geradezu in die Falle, die die realitätsblinden Identitätspolitiker stellen. Die bestünde darin, die Wirklichkeit selbst auch nicht mehr wahrnehmen zu können, aus Trotz. So ließe man sich eben die Weltsicht am Ende doch von den Identitätspolitikern aufdrücken, wenn auch invers.

Es wäre dann, anders gesagt, eben doch so, dass die Identitätspolitiker mit ihrer Polemik die Welt herstellen, die sie vorgeben zu bekämpfen, indem sie Trotz hervorrufen, der die Dinge verzerrt. Denn im Trotz fühlt und sagt man vielleicht Dinge, die fern von dem ist, was man fühlen und sagen würde, wenn man etwas ruhiger wäre. Wir alle müssen hier ein bisschen aufpassen, dass wir nicht in diese Falle der Identitätspolitiker gehen. Denn vermutlich wollen sie uns genau da haben.

Christian Kümpel

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Gesinnung

Andreas Dorschel, Philosoph, hat in der Januarausgabe des Merkur ein sehr lesenswertes Essay zum Thema Gesinnung geschrieben. Er stellt dabei zunächst fest, dass man im Wahlkampf zum Studentenparlament keine Ziele mehr verkündet, sondern Gesinnung ausstellt. “Wählt uns, dann wir sind die Guten!” Diese Ausstellung von Gesinnung sei nicht belangbar, denn für seine Gesinnung kann man nicht. Sie ist einfach da. Am besten als antifaschistische und antirassistische Haltung. Gesinnung suggeriert, dass, wenn alle sie teilen, alles gut werde. Wer einmal die Gesinnung hat, der sinnt nicht mehr. So erlaubt sie antiintellektuelles Intellektuellentum. Dabei fällt auf, dass man seine Gesinnung gerne mit der Vorsilbe „anti“ schmückt. Antisexistisch, antiheteronormativ, allerdings auch klimagerecht.

Nun wird niemand von sich behaupten sexistisch und rassistisch zu sein. Vielmehr wird auch derjenige, der es ist, das Gegenteil behaupten. Das kennt man ja aus der Vergangenheit, als die Puritaner ihre Gesinnung zeigten, aber nicht immer danach lebten. Als Voraussetzung braucht die Gesinnung die Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Doch in die Gesinnungsgemeinschaft schleicht sich etwas ein. Gesinnung, so möchte man ergänzen, ist der große Bruder der kleinen Schwester Heuchelei, die sich dazugesellt und für Unruhe sorgt. Dann in der Gemeinschaft der Gesinnten macht sich schnell der Verdacht breit. Schließlich kann man sich nie sicher sein, ob der andere seine Gesinnung nur vortäuscht, um Vorteile zu erlangen. Um jeden Verdacht zu zerstreuen braucht es deshalb die Gesinnungshuberei.

Doch wehe, wenn man was schiefgeht. Wenn man im Verhalten der edlen Gesinnung nicht immer entspricht, droht Reputationsverlust. Die Kosten der Gesinnung sind also nicht zu unterschätzen: Unfreiheit, Angst und Lüge. Als Voraussetzung für die Gesinnung braucht man außerdem eine gewisse Form von Bildung. Immerhin kennt nicht jeder das Wort heteronormativ. Auch muss man sich die Gesinnung leisten können, zum Beispiel durch eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. Dafür bekommt man im Falle einer Übernahme von Gesinnung das wohlige Gefühl, zu den Guten zu gehören.

Die Pointe nach Dorschel ist jedoch, dass Gesinnung nicht auf Gesinnungslosigkeit trifft, auch wenn das die Gesinnten gerne so hätten. Oft trifft man nur auf andere Gesinnungen, die man jedoch ablehnt. Das wahre Gegenteil von Gesinnung wäre jedoch laut Dorschel Sachlichkeit. Doch Sachlichkeit ist – so möchte ich den Text interpretieren – in einer Ich-bezogenen Gesellschaft, die Gesinnung zur Ich-Erweiterung braucht – kaum angesagt. Denn Sachlichkeit sieht vom Ich ab. Frei von Gesinnungen kann nur sein, wer über sie nachdenkt. Zumindest kann man sie sich ein wenig vom Leibe halten. Dorschel tut es auf vortreffliche Weise.

Christian Kümpel

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