Ist es jetzt vorbei?

Zurzeit spricht man nicht mehr von Held:innen, sondern von Helden. Männer, die in der Ukraine für die Freiheit kämpfen, werden nicht als toxisch oder sonst wie denunziert, sondern bewundert. Offen darf man darüber sprechen, dass Ukrainer eher zu Europa gehören als andere und deshalb gerne aufgenommen werden. Von LGBTQ in der Ukraine redet niemand. Das ganze Minderheitengedöns scheint jetzt niemand zu interessieren. Ist das die Wende?

Natürlich können Trends gebrochen werden. Der Zeitgeist ist eben ein Geist, der auch mal kurzzeitig verschwinden kann. Aber die unterliegenden Strömungen werden sicher nicht davon beeinflusst. Sobald der Krieg zu Ende ist, wird es mit Sicherheit an den Unis und in den Medien wieder losgehen. Die Bewusstseinsindustrie und ihre Ableger, die Werbebranche, werden genau dort weitermachen, wo sie aufgehört haben.

Was sind diese unterliegenden Strömungen? Es ist der Selbsthass des liberalen Westens. Sobald der Westen sich etabliert hat, traten seine Kritiker auf den Plan. Sie sind nämlich ein Teil des Westens selbst. Der Selbsthass ist sozusagen der Schatten dieser Zivilisation. Doch wie ist er zu erklären?

Odo Marquardt, der Philosoph der Skepsis, hat da eine interessante Idee anzubieten. Da es keinen Gott – diesen hat der Westen sozusagen gekillt – mehr gebe, den man anklagen könne, wird der Mensch als Schöpfer der Geschichte betrachtet, der für alle Übel verantwortlich sei. Dabei entsteht eine neue Herrschaftsform. Die säkuläre Priesterschaft schwingt sich zum Ankläger auf und bietet sich als Weltgewissen an. Ihre Kernbotschaft: Der Westen ist für alles Schlechte verantwortlich, den der Westen behauptet ja auch, man könne nun sein Schicksal selbst bestimmen.

Die Ironie dabei: Man entlastet die afrikanischen und arabischen Despoten, die Islamisten und in der Vergangenheit auch Putin. Doch zurzeit ist man auf Seiten der Priesterschaft etwas verwirrt, weil der Westen zumindest nicht mittelbar Schuld an dem Krieg in der Ukraine ist. Doch ich möchte fast wetten: Wenn der Krieg vorbei ist, dann wird die „Priesterkaste“ wieder ihr Haupt erheben. Denn dem Westen ist es eben immanent, sich selbst zu hassen, solange er keinen äußeren Feind hat. Es ist sozusagen, sein eingeschriebener Wahn, dass alles möglich ist und seine Verzweiflung darüber, dass dies nicht stimmt, treibt ihn in den Selbsthass, der heutzutage eben die Form der Identitätspolitik annimmt. Der Selbsthass ist im Grunde Ausfluss seiner mangelnden Selbstbeschränkung und nicht vorhandener Demut. Das wird bleiben. Denn das ist urwestlich. Und darum geht es in der einen oder anderen Form nach dem Krieg wieder weiter wie zuvor. Denn die Frage, wie es sein kann, dass es ein Übel gibt, wenn wir doch allmächtig sind, ist das westliche Theodizee-Problem, das auf Dauer in der westlichen DNA angelegt ist.

Christian Kümpel

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Alles nur geklaut

Fridays for Future wollte wieder mal eine Klima-Demo durchführen. Und weil es ja auch darum geht, bei allem Ernst Spaß zu haben, wollte man die Sängerin Ronja Maltzahn und ihre Band dazu einladen. Maltzahn trägt aber Dreadlocks. Dreadlocks sind die Filzlocken des Haupthaars. Nun gilt es bei manchem als kulturelle Aneignung, wenn Weiße sowas tragen. Maltzahn ist weiß.

Kulturelle Aneignung heißt übrigens für alle, die so etwas nicht kennen, man nimmt irgendwelche typisch fremden Gebräuche und kopiert sie. In dem Fall von Schwarzen. Manche würden es daher eher als Kulturtransfer bezeichnen.

Jedenfalls wurde Maltzahn nun wegen der nicht gewaschenen, verfilzten Haare ausgeladen und war geschockt. Im Tagesspiegel wurde sie mit folgenden Worten zitiert: „Wir hatten uns darauf gefreut ein Zeichen für Frieden und gegen Diskriminierung mit unserer Musik setzen zu dürfen. Schade, dass wir aufgrund von äußerlichen Merkmalen davon ausgeschlossen werden.“

Ja, schade. Allerdings könnte man ja auch damit kommen, dass Dreadlocks nicht nur Schwarzen gehören, um mal in der Terminologie der Identitätspolitiker zu bleiben, sondern allen. Hierzu kann man bei Wikipedia nachlesen: „Auch in Europa waren teilweise verfilzte Frisuren populär, beispielsweise am Hof von König Christian IV. von Dänemark und Norwegen (1577–1648). Der König litt an einem Weichselzopf, einer unerwünschten Zusammenballung verfilzter Haare, die vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit in ganz Mitteleuropa verbreitet war. Der Weichselzopf des Königs hatte die Form eines „Schweineschwanzes“, der von der linken Seite seines Kopfes herabhing und mit einer roten Schleife verziert war. Um dem König zu schmeicheln, wurde diese Haartracht von den Menschen an seinem Hof imitiert. Auch in Kombination mit dem Mühlsteinkragen dienten verfilzte Zöpfe als modische royale Frisurenvariante. Weiterhin glaubte man auch, dass Krankheiten durch die Haare den Körper verlassen und sah die Verfilzung von Haaren als ein gutes Zeichen, daher durften diese nicht abgeschnitten werden. Zudem trugen französische Soldaten verfilzte Haare als Schutz vor Säbelangriffen auf den Nacken.“

Aha! Die Frage wäre nun, wer da von wem geklaut hat. Denn die Rastafari kamen erst um 1930 auf den Dreh mit den Dreadlocks. Bedeutet das nun, die Schwarzen müssen der kulturellen Aneignung bezichtigt werden, weil ja der Weichselkopf aus Europa stammt? Ach was! Normale Menschen, also keine Identitätskrieger, sehen so etwas entspannt. Wenn Afrikaner Hemd und Krawatte tragen, dann empfinde ich es jedenfalls nicht als kulturellen Diebstahl. Ich nehme es ihnen auch nicht übel, dass sie nicht im Lendenschurz durch Köln marschieren. Sie wollen vielleicht so sein wie wir. Oder zumindest so aussehen. Das ist doch ein schönes Kompliment. Und wenn Frau Maltzahn so erscheinen möchte wie ein Rastafari, dann ist das sicher auch eine kulturelle Verbeugung vor Reggae und Co.  

Eine andere Frage ist, ob einem Dreadlocks wirklich stehen. Ich würde meinen, dass Olaf Scholz damit lächerlich aussähe. Frau Maltzahn jedoch hat jeden Grund, ihre Dreadlocks weiter zu tragen.

FFF hat da also im Ergebnis was an den Haaren herbeigezogen. Denn wenn man nicht nur das Klima schützen will, sondern auch noch in allem ein Haar in der Suppe findet, dann wird es eben haarig, wie man sieht.

Christian Kümpel  

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Was verteidigen wir, wenn wir kämpfen?

Ganz zu Recht wird gesagt, dass die Ukrainer ihr Land, ihre Freiheit und Ihre Unabhängigkeit gegen Russland verteidigen. Die Motivation der Ukrainer ist hoch. Hypothetisch darf man da mal fragen: Wie wäre es denn, wenn die Bundesrepublik von Putin überfallen würde?

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich dieses Land in den letzten Jahren sehr geändert hat. Wenn man es verteidigen würde, dann kämpfte man zum Beispiel für weit über 200 Genderprofessuren. Die würden einen russischen Sieg sicher nicht überstehen. Außerdem schlüge man sich für unzählige NGOs, die staatlich finanziert, Rassismus, Faschismus und anderen Ismen bekämpfen. Leider vergeblich, wie man feststellen muss. Denn je mehr es von ihnen gibt, desto schlimmer wird es offensichtlich. Fazit: Die Bundesrepublik ist strukturell voller Genderprobleme und rassistisch. Soll man für so ein Land sein Leben geben?

Wir kommen kurz noch mal zu dem Recht, sein Geschlecht selbst zu bestimmen. Der Russe ist da wenig feinfühlig, wie man weiß. Die Frage wäre demnach: Würde man sich schützend vor Markus Ganserer… Verzeihung Tessa Ganserer stellen, wenn der T 80 vor der Tür stünde? Meine Motivation ist, das gebe ich zu, da eher gering. Apropos Frauen, wir wissen ja auch, dass Frauen hierzulande übel mitgespielt wird, von wegen Gehalt und Aufstiegsmöglichkeiten, von der Quote ganz zu schweigen. Wäre es da vernünftig, so etwas noch militärisch abzusichern? Wer weiß, vielleicht hätten Frauen unter Putin noch ganz andere Möglichkeiten als hierzulande.

Doch eine Sache ist allen doch so wichtig, sie mit der Waffe in der Hand zu unterstützen, nämlich die Meinungs- und Redefreiheit. Hierfür würde ich gerne Opfer bringen, wenn nötig die größten. Allerdings ist es darum nicht mehr ganz so rosig bestellt. Man frage nur diejenigen, die an den Unis studieren und nicht links sind. Da gilt es, sich lieber zurückzuhalten, wenn die linke Woke-Community ihre Meinungshoheit durchsetzt. Man sieht also, das Bild ist in Teilen trübe.

Wofür wir hier also im Wesentlichen kämpfen würden, das wäre ein angenehmes Wohlleben im Sozialstaat, bei dem das Ich im Zentrum steht. Das ist in der Tat auch was wert. Dafür wäre dann aber ein erheblicher Ausstoß von CO2 zur Verteidigung des Landes erforderlich. Denn machen wir uns nichts vor: Krieg ist nicht klimaneutral. Spätestens hier sehe ich viele Fragenzeichen bei den politisch Verantwortlichen auftauchen. Wollen wir also bloß hoffen, dass diesem Land nicht irgendwann Antworten abgenötigt wird. Vermutlich würde diese anders ausfallen als in der Ukraine.

Christian Kümpel

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Identitätspolitik im Gesinnungsstaat

Für einen eher liberal denkenden Menschen hat der Staat nicht die Aufgabe, Menschen zu erziehen. Er muss sich vielmehr, was Gesinnungen und Haltungen betrifft, zurücknehmen, und zwar aus grundsätzlichen Erwägungen. Diese sind unter anderem, dass der Staat nicht wissen kann, was moralisch geboten ist. Außerdem neigen Staaten, die sich moralisch aufladen, zu totalitärem Handeln. Die Methoden des Staates sollten daher bestimmt sein von administrativen Erwägungen. Ansonsten überlässt der Staat der Gesellschaft alle Aufgaben, die er nicht zwingend selbst besser erledigt. Dazu gehört unbedingt die Frage, welcher Werte der Einzelne sich verschreibt.

Von so einem Staat sind wir natürlich in der Bundesrepublik meilenweit entfernt. Nicht nur übernimmt der Staat viele Aufgaben, die Private besser durchführen könnten, er versorgt die Gesellschaft auch mit immer mehr Gesinnung. Als ein Beispiel soll hier angeführt werden: Toleranz. Toleranz ist eigentlich Privatsache. Dazu ein Auszug aus einer Mitteilung der Aktion Schulstunde des RBB: „Dem Wesen der Toleranz in der nun dritten Ausgabe der “Aktion Schulstunde” ist auch weiterhin der kleine Philosoph Knietzsche auf der Spur. Er macht sich so seine ganz eigenen Gedanken, weiß aber mit Sicherheit: “Die Welt ist bunt. Was heute fremd ist, ist morgen vertraut und vielleicht das Allerbeste in deinem Leben. Jeder soll jeden so nehmen, wie er ist – das ist Toleranz! Wenn jeder danach leben würde, wäre das Leben viel einfacher.” Natürlich darf und muss man das Thema Toleranz im Unterricht bringen. Aber es ist ein Unterschied, ob man Toleranz erklärt und historisch herleitet oder verordnet. An der Stelle wird es eher verordnet. Oder hat jemand einen Zweifel daran, dass der Schüler der kritisch nachfragt, Probleme bekommt?

Tatsache ist hier wie auch sonst, dass die Schule eine ganz bestimmte Haltung vermitteln will. Mit welchem Recht, fragt man sich allerdings. Auch so etwas wird im Unterricht vorkommen: „Identitätspolitiken spielen auch in der Schule eine wichtige Rolle: Schüler*innen ordnen sich Gemeinschaften zu, spielen mit Identitäten oder erfahren Zuschreibungen aufgrund von angenommenen oder tatsächlichen Gruppenzugehörigkeiten. Dr. Michael Kiefer, Islamwissenschaftler an der Universität Osnabrück, macht in diesem Baustein auf mögliche identitätspolitische Konflikte und Zuschreibungen rund um das Thema Islam aufmerksam. Außerdem stellt er alternative Konzepte vor, die die Konstruktion von Unterschieden vermeiden.“ Mal abgesehen davon, dass man hier wieder den Grundwiderspruch erfährt zwischen Konstruktion und behaupteter Identität, wird so etwas tatsächlich in Deutschland unterrichtet? Leider ja! Auch das postkoloniale Klassenzimmer ist Thema oder auch Sexualität im Sinne des LGBTQ. Anders gesagt: Eine bestimmte Haltung und Ausrichtung sind gefragt. Und diese werden nicht hinterfragt, sondern affirmativ behandelt. Nennen wir es deshalb das Kind beim Namen: Es geht um Indoktrination.

Schule, eine staatlich geprägte Institution, ist also also heute der Ort, wo die Kinder schon die richtige Einstellung für die Gesinnungsgesellschaft erlernen. Was sie nicht lernen sollen: Einstellungen zu hinterfragen. Das ist nichts Neues. So war es auch in der DDR. Der Unterschied zu heute: Diesmal haben wir die richtige Gesinnung. Zumindest wird es von einigen vermutet. Der Staat sollte sich dennoch zurücknehmen mit Moral und Haltungen, und zwar selbst dann, wenn es richtig wäre, dass verordnete Toleranz moralisch geboten ist. Denn so ein Staat wird bei bestimmten Gruppen auf grundsätzliche Ablehnung stoßen, weil ihre Werte missachtet werden. Dem kann dann nur begegnet werden, indem man diese Gruppen zu absoluten Feinden des Staates erklärt. Er muss nun alle, die sich dem Haltungsstaat widersetzen zum Feind erklären. Und so geschieht es ja auch schon in Teilen. Denn der Gesinnungsstaat muss sich immer radikalisieren und Konflikte verschärfen. Er braucht zwingend ein schwarz-weiß-Denken.

Früher wusste man noch, dass der Gesinnungsstaat immer den geistigen Bürgerkrieg vorbereitet. Man hat diese Lektion leider wieder vergessen. Es ist eben zu verlockend, sich auf der moralisch richtigen Seite zu wissen. Und wie es aussieht, besteht wenig Hoffnung, dass man auf dem Weg umkehrt. Denn die vielen Wohlgesinnten, die aus den Unis strömen, können gar nicht anders, als andere mit ihren Einstellungen zu beglücken, wobei jede wahre Liberalität und der liberale Staat auf der Strecke bleibt.

Christian Kümpel

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Darf man vielleicht doch canceln?

Ja, gecancelt wurde immer schon. Früher hieß das allerdings anders. Man nannte es abolitis nomines. Bei den Römern wurden die Namen von Kaisern aus der Erinnerung getilgt, die sich übel aufgeführt haben. Zumindest versuchte man es. 2000 Jahre später wurden unter Stalin Kommunisten, die in Ungnade gefallen waren, aus der öffentlichen Erinnerung gelöscht, indem man Fotos veränderte. Das war ein ständiges Retuschieren, denn es konnte jeden treffen und traf am Ende auch Stalin selbst.

Unsere heutige Cancel-Culture kann da nicht ganz mithalten. Jetzt geht es im Wesentlichen nur noch darum, dass man nicht mit Argumenten jemand widerlegt, sondern versucht, eine Person so zu diskreditieren, dass sie nicht mehr öffentlich in Erscheinung treten kann. Als Beispiel dafür gilt die Aktion von Künstlern „Alles dichtmachen“. Es wurde gefordert, TV-Verträge mit den beteiligten Schauspielern aufzukündigen. Darauf zogen einige tatsächlich ihre Beiträge zurück. Andere sollen keine Verträge mehr erhalten. Wer eher unbekannt ist und keine Fürsprecher hat, der kann da schnell unter die Räder kommen.

Canceln heute ist also heutzutage eher konzertiertes Diskreditieren zum Zwecke der Unsichtbarmachung und Verängstigung. Dass es funktioniert, sieht man bei Leuten wie Kathleen Stock, die solange gemobbt wurde, bis sie ihren Posten räumte. Dies, obwohl sie lediglich darauf besteht, dass Männer keine Frauen sein können.

Jetzt hat es auch russische Musiker erwischt, nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Ihnen wird vermutlich zu Recht nachgesagt wird, sie seien Putin-nah. Der Dirigent Valery Gergiev wird deshalb im Westen kaum wieder ein Engagement erhalten, obwohl er wohl ein großer Künstler ist. Und er ist nicht der einzige.

Die Frage ist nun, warum man Leute wie ihn rauskegelt. Zum einen tut man es sicher, weil man sehr empört ist über des russische Verhalten. Und Empörung ist ja in unserer Gesellschaft sehr angesehen, obwohl es im Grunde um eine extrem uncoole Reaktion geht. Man könnte es so übersetzen: Dein Verhalten oder Nicht-Verhalten – die russischen Künstler weigern sich Putin zu verurteilen – bringt mich so aus der Fassung, dass du nie wieder irgendwo erscheinen darfst. So gewinne ich meine innere Balance wieder. Oje, kann man da nur sagen.

Wenn Empörung so etwas ermöglicht, dann darf man sich nicht wundern, wenn immer mehr Menschen ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Hier wird sichtbar, dass Tugenden wie Beherrschtheit, Zurückhaltung und Abstand nicht mehr zeitgemäß erscheinen, weil sie ja keine Macht über andere, sondern nur über sich zum ZIel haben. Heute darf man hysterisch, zornig und aufgeregt sein und gilt dennoch als respektabel. Meine Generation – ich gehöre zum Typus alter weißer Mann – findet das daher eher peinlich und weibisch, zumal man diese Aufgeregtheit nun in Macht übersetzt.

Und natürlich sollte man auch daran denken, dass Canceln der Versuch ist, schnell vergessen zu machen, dass man ja selber Dreck am Stecken hat. Wenn Gergiev gecancelt wird, dann darf man wohl daran erinnern, dass der cancelnde Oberbürgermeister von München, Dieter Reiter, den Dirigenten vor dem Angriff Russlands super fand. Sonst hätte er wohl einer Anstellung bei den Münchner Philharmonikern widersprochen. Plötzlich ist alles anders, obwohl Putin ja auch vorher nicht gerade ein Engel war und Russland nicht gerade ein Hort der Menschenrechte. Anders gesagt: Wer cancelt, der schafft schnell Abstand zu seinen früheren Einstellungen und kann sich vermutlich noch selbst vor Kritik retten, was wiederum ein bisschen an Stalins Russland erinnert.

Schließlich gibt es sicher grundsätzlich das Hochgefühl, als “Jagdgesellschaft” das Wild zur Strecke zu bringen, indem man gemeinsam fordert, jemanden zu canceln und auch noch Erfolg damit hat. Macht ist eben wie eine Droge. Davon können viele nicht genug bekommen und cancelt,, was das Zeug hält. Bei Gergiev hat es geklappt. Der Mucker hat über den Mächtigen gesiegt.

Natürlich habe ich kein Mitleid mit Gergiev. Aber wenn ich gegen Canceln bin, dann kann ich keine Ausnahmen machen, nur weil es aus meiner Sicht den richtigen Mann erwischt hat. Wenn also jemand Kommunist ist und Gemüse verkauft, dann fordere ich niemanden auf, ihn zu boykottieren, und zwar trotz meiner großen Aversionen. Aber ich werde mich nicht mit ihm anfreunden und ihm sagen, dass ich seine Ansichten nicht teile, wenn er mich fragt.

Denn es geht hier nicht nur um richtig und falsch, gut und böse oder Moral, sondern um Regeln, die wir brauchen, damit wir vernünftig zusammenleben können. Und eine wichtige Regel muss lauten: Canceln ist immer und ausnahmslos nicht in Ordnung, egal wen es trifft, auch weil es meist aus niedriger Gesinnung erfolgt. Anders gesagt: Wir müssen das Canceln canceln und verstehen, warum manche canceln. Dann verstehen wir, dass die Gründe meist vorgeschoben und schlecht sind.

Christian Kümpel

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Mutabor

Die Ampel-Regierung arbeitet daran, dass man allein durch Mitteilung ans Standesamt sein Geschlecht ändern kann. Dies soll ab 14 Jahren möglich sein. In der FAZ hat allerdings ein Leser darauf aufmerksam gemacht, dass man die Wirklichkeit nicht durch eine Willensäußerung verändert. Täte man es, wäre es Willkür. Oder nicht eher Wahnsinn?

Freiheit wird begrenzt von Tatsachen. Nehmen wir an, ich wünschte mir ein Baum zu sein. Ich hätte sicher nicht die Freiheit einer zu werden, denn es ist objektiv unmöglich, sich in eine Birke zu verwandeln. Genauso unmöglich ist es auch, als Mann eine Frau zu werden. Doch scheint es in dieser Gesellschaft nun keinen Konsens mehr darüber zu geben, dass man das Unmögliche nicht erstreben sollte.

Sicher, es ist wohl der Menschheitstraum schlechthin, wie ein Gott zu sein. Denn war es nicht Zeus, der sich in jedes beliebige Tier verwandeln konnte? So soll es nun jedem von uns durch einen Sprechakt gelingen, sein Geschlecht zu ändern. Doch ist das nicht Hybris, also Wahnsinn?

Und was ist mit den Menschen, die nicht anerkennen wollen, dass es genügt, das Wort zu sagen, um sich zu verwandeln? In der Tat muss man jetzt diese Menschen zwingen, die Verwandlung anzuerkennen. Dazu wird es entsprechende Gesetze geben, die denjenigen bestrafen, der ebenfalls ein Freiheitsrecht nutzt, nämlich auszusprechen, was er sieht. Wer einen Mann in Frauenkleidern als Mann in Frauenkleidern bezeichnet soll nämlich mit Konsequenzen rechnen, wenn das Gesetz verabschiedet wird. So wird die Hybris höher bewertet, als die Freiheit, Tatsachen zu benennen.

Zu meinen, dass unsere Gesellschaft dem Verrückten huldigt, ist naheliegend. Wer Foucault ein wenig kennt, der wird nicht umhinkommen festzustellen, dass seine Ideen heutzutage perfekt umgesetzt werden. Wahnsinn, der von der modernen Gesellschaft an den Rand gedrängt wurde, wie er behauptet hat, rückt mit Macht in die Mitte der Gesellschaft und beginnt, sie zu dominieren. So sei es. Aber auch dafür bezahlt man einen Preis, nämlich den, dass man nun im Gegensatz zu früher den Wahnsinn nicht mehr Wahnsinn nennen darf. Das Programm besteht also darin, das Irre zu normalisieren, indem man ihm einen anderen Namen gibt, nämlich Freiheit. Wenn diese Diagnose richtig ist, dann wird es etwas mit dem Begriff Freiheit machen. Ich könnte mir vorstellen, dass Freiheit auf diese Weise bald in vielen Kreisen abgelehnt wird.

Es ist jedenfalls nun nicht mehr abwegig, davon auszugehen, dass wenn der Sprechakt entscheiden soll, Wirklichkeit zu schaffen, der Freiheitswahnsinn erst anfängt. Darf man jemanden, er mit 80 behauptet ein junger Mann zu sein, widersprechen? Darf man einem Kleinwüchsigen, der behauptet ein Riese zu sein, verlachen? Darf man einem Multimillionär, der in seiner Steuererklärung angibt, bettelarm zu sein, dies bestreiten? Wenn man die Tatsachen ins Benehmen des Einzelnen legt, ist jedenfalls alles möglich. Mutabor!

Christian Kümpel

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Die Spaltung bewirtschaften

In der März-Ausgabe des Merkur wird von Steffen Mau, Soziologe, die Spaltung der Gesellschaft diskutiert. In seinem Text stellt er fest, dass das es ohne das Thema Kluft und Antagonismus nicht mehr abgehe. Flüchtlinge, Corona oder Gendern, alles spalte in unversöhnliche Lager. Vielleicht sei aber die Spaltung selbst das eigentliche Thema.

Mau führt dazu aus, dass die Gesellschaft vor dem Krieg sicher sozial gespalten war. Der Soziologe Helmuth Schelsky stellte im Kontrast dazu die Nachkriegsgesellschaft als nivellierte Mittelstandsgesellschaft dar. Man könnte ergänzen: Auch so in der ehemaligen DDR, in der kulturell und sozial Gleichheit Trumpf war. Ob diese Diagnose nun wirklich zutrifft, lässt Mau offen. Aber man hat das Bild einer Gesellschaft vor Augen, die sowohl ethnisch als auch sozial homogen war. Angesichts eines solchen Bildes, das vermutlich weichgezeichnet ist, ist es kein Wunder, dass man heute die Vergangenheit als die Zeit der Einheit empfindet.

Allerdings sei es heute nicht wirklich so, dass sich in allen Fragen unversöhnliche Lager gegenüberstünden. Zumindest lassen die die Daten diesen Schluss nicht zu. Tatsächlich komme es durchaus vor, dass Leute für mehr Flüchtlinge aus Afrika sein können, aber beim Thema Corona eher gegen die Impflicht. Und oft vertrete man in den Fragen keine Extrempositionen. Anders gesagt: Die Fronten verlaufen nicht immer so ganz deutlich und manche befinden sich mal rechts und mal links von der „Bruchlinie“, während immer noch die meisten sich mittig verorten.

Mau folgert, dass man mit der Spaltung nun zumindest was die Medien, politische Unternehmer oder Parteien betrifft, übersichtliche Strukturen geschaffen habe, indem man die Konfliktthemen akzentuiere. So betrachtet seien sie die Produzenten von etwas, das Mau als Inszenierung beschreibt, um die Spaltung zu bewirtschaften. Denn wenn man zum Beispiel das Thema Unisex-Toilette nehme, so ist es ideal, um hier die entsprechende Aufregung zu generieren, die jedenfalls nicht aus der Gesellschaft selbst kommt, sondern von ihren Rändern.

Wenn Mau recht hat, dann würde man ständig kontroverse Minderheitenthemen setzen, um Emotionen zu schüren. Identitätspolitik wäre zum Beispiel das Instrument dazu. Das ist nun in gewisser Hinsicht sehr ironisch. Denn die Medien und die Parteien sind es ja auch, die den Laden zusammenhalten, indem sie Diskussionen führen, die erst Gemeinsamkeit hervorbringen.

Jedenfalls ist der Gedanke spannend: Es gibt keine wirkliche Spaltung, sondern nur eine Bewirtschaftung derselben. Durchaus nachvollziehbar, wenn man die Gesellschaft als Gemeinschaft auffasst, die Aufmerksamkeit als Währung kennt, die immer wieder neu hergestellt werden muss, damit man im Rennen bleibt. Insofern wäre gerade die Identitätspolitik dann nichts weiter als das Produkt einer Aufmerksamkeitsgesellschaft, die solche Themen hervorbringt, um Wahrnehmung zu ermöglichen.

Christian Kümpel

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Identitätspolitik auf Russisch

Laut Alexander Dugin, russischer Ideologe, befindet sich Eurasien – also im Wesentlichen Russland – im Kampf mit dem absolut Bösen. Das absolut Böse wäre der westliche Liberalismus. Ihn zu bekämpfen, dazu sei Russland aufgerufen.

In der Tat kann man dem westlichen System einiges vorwerfen. Da fällt einem zunächst einmal Heuchelei ein. Ist es denn nicht verlogen, ständig Werte im Munde zu führen, die für alle gelten soll, um gleichzeitig mit Despoten und Rechtsbrechern gute Geschäfte zu machen und den Islam – ein klassisches antiliberales Konzept – zu hofieren? Zum Liberalismus gehört eben auch das Konzept, es mit allen Handel zu treiben, in der Hoffnung, so würde man die Welt zu einem sicheren Ort machen. Ob diese Vorstellung eine Ausrede ist, darüber kann man streiten.

Dass viele nur um sich selbst drehen und – das muss man schon sagen – dabei gelegentlich durchdrehen ist auch irgendwie westlich. Hyperindividualismus hat seinen Preis. Ihn zu kritisieren, das ist nicht schwer. Besonders peinlich darin ist, dass die gar so großen Individualisten meistens sehr konform denken.

Zu den weiteren Negativseiten des Westens gehört natürlich auch der Komplex der Identitätspolitik. Nicht dass die westliche Welt tatsächlich strukturell rassistisch, frauenfeindlich oder homophob wäre. Im Vergleich zu Ländern wir Russland oder Saudi Arabien ist der Westen ein Paradies für Schwule. Doch es ist ein ehernes Gesetz: Wenn es besser geht, dann werden die Leute hyperempfindlich. Diese bewirtschaftete Pseudoungerechtigkeit und das Getue um Identität höhlt dabei die Gesellschaft als Ganzes aus.

Ebenfalls nicht immer sympathisch ist dieses missionarische Zug des Liberalismus, der schnell in eine Form des Antiliberalismus umschlägt. Die Freiheit wird im Namen der Freiheit vor Zumutungen eingeschränkt. Und viele merken es nicht einmal.

All das kann man dem Westen also vorwerfen. Und sicher fällt uns beim Nachdenken noch viel mehr ein. Doch das ist es ja nicht, was Dugin wirklich stört. Vielmehr braucht er den Westen, um den Osten zu retten. Er braucht den Westen als Negativfolie, um eine durch und durch korrupte und verdorbene Gesellschaft, wie sie die russische ist, irgendwie gut aussehen zu lassen. Es kann dabei durchaus sein, dass er mit mancher Kritik Recht hat. Doch muss man sie am Ende zurückweisen, weil er die Kritik nicht übt, um den Westen über sich selber aufzuklären, sondern weil man ihn als Feind darstellen muss, um im glänzenden Licht zu erstrahlen.

Und genau das erinnert dann doch wieder sehr an die aktuelle Identitätspolitik im Westen. Denn auch dabei läuft es immer auf eins hinaus: Das Gute kämpft gegen das Böse, weil es eben nicht um Veränderung und Aufklärung geht, sondern um die Konstruktion eines Feindbildes zu ganz eigenen Zwecken.

Es gibt solche und solche Nationen

Eine Nation, was ist das anderes als eine Geschichte, die von allen Bürgern geglaubt wird. Die Geschichte hat unterschiedliche Elemente. Wir gehören zusammen, das ist allerdings immer ein Teil davon. Doch warum gehören wir zusammen? Weil wir eine gemeinsame Kultur haben? Weil wir eine gemeinsame Sprache haben? Weil wir eine gemeinsame Vergangenheit haben? Vielleicht. Aber auch der Kampf, den man gemeinsam besteht, definiert eine Nation.

Die Ukraine kämpft um ihr Überleben, und zwar gegen einen vielfach überlegenen und zudem äußerst rücksichtslosen Feind. Diejenigen, die gestern noch nicht wussten, ob sie wirklich Ukrainer sind, weil sie sich historisch, sprachlich und kulturell zu Russland hingezogen fühlten, sie wurden unter russischem Beschuss Ukrainer.

Auch wenn die Ukraine diesen Kampf verlieren sollte, was sehr wahrscheinlich ist, wird Putins Russland nicht verhindern, dass die Ukrainer sich nun als Nation gefunden haben. Sie wurden eine Nation sozusagen in dem Moment der möglichen Auslöschung. Russland wird diese Geschichte dagegen weiterhin als antifaschistische Kampf verkaufen. Das passt zu dem Narrativ, welches man sich in Russland seit 1941 erzählt. Seit 1941 befindet sich Russland im Kampf mit Hitler, der nur die Namen wechselte. Heute ist ihr Hitler die Nato, Amerika oder die EU. Das wird den Leuten in Russland erzählt, die es glauben, was sie wiederum zu einer Nation macht. Nebenbeibemerkt: So gehört man zu den Guten, ohne es jemals wirklich gewesen zu sein.

Jeder von uns lebt in imaginierten Gruppen, auch die sogenannten Weltbürger. Anders können größere Gruppen keinen Zusammenhalt finden. Die Faktoren und Geschichten, die uns zu einer Gruppe zusammenschweißen, sind vielfältig. Die Erzählungen und Ereignisse in Deutschland sind andere als die jetzigen in der Ukraine. Doch ich denke, dass der heldenhafte Kampf der Ukrainer sie schon jetzt nicht nur in einer geeinten Nation zusammenführt. Sie werden im Vergleich zur postheroischen Nation der hyperempfindlichen Diversität der Bundesrepublik auch deshalb in gewisser Hinsicht überdauern, weil jeder Ukrainer das ultimative Opfer zu bringen bereit ist für seine Nation. Auch das trennt uns von dieser der Ukraine. Denn nur in einer wahrhaft heldenhaften Nation ist man bereit, für die Nation zu sterben.

Christian Kümpel

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