Was ist es, dass der Mensch braucht, so wie der Frosch das Wasser oder der Vogel die Luft? Er braucht die Gruppe. Anders gesagt: Er ist ein Stammestier. Der Stamm bietet Halt, Orientierung und Verbundenheit. Außerdem stiftet der Stamm Sinn und kennt Solidarität.
Doch was braucht der Stamm? Klar, er braucht ein Territorium. Das kann man neuerdings auch im Internet finden. Er braucht aber vor allem andere Stämme. Denn ein Stamm ist nur ein Stamm, wenn es andere Stämme gibt, so wie eine Spielkarte beim Skat nur deswegen eine bestimmte Funktion hat, weil eine andere eine andere hat. Man bezieht sich aufeinander durch Differenz. Ein Bube ist ohne die Dame bedeutungslos.
Vollkommen unnatürlich ist jedoch die Vorstellung, dass alle Menschen sich verbunden fühlten als Menschheit. Wer Menschheit sagt, will betrügen, meinte Carl Schmitt. Zumindest kann man feststellen, dass auch die größten Verfechter der Idee, dass es eine Menschheit gäbe, immer auch einem Stamm angehören, nämlich dem der Kosmopoliten. Wir und Ihr, dass ist das ewige Menschheitsgesetz. Deshalb kann man wohl von Menschen reden, die die Welt bevölkern. Aber dass die Menschheit nun wie ein großer Stamm wäre, dies kann mit guten Gründen bestritten werden. Denn es fehlte an dem Stammesgefühl, gäbe es nur einen Stamm. Und das brauchen wir halt.
Stämme im eigentlichen Sinne sind eigentlich nicht groß. Vielleicht so 150 – 200 Mann stark. Dass es spöter Nationen gibt, mutet da wie ein Wunder an. Denn hier handelt es sich um Verbände von Millionen, wenn nicht sogar von Milliarden Menschen. Benedict Anderson hat herausgearbeitet, welche Voraussetzungen es geben muss, damit Menschengruppen sich als Großstamm vulgo Nation konstruieren. Wichtig dabei ist vor allem: Nationszugehörigkeit für jeden, der einer Nation angehört, ist ein Gedanke, der von allen Mitgliedern einer Nation geglaubt werden muss. Das gilt allerdings auch für jede andere Großgruppe, zum Beispiel die Bayern-Fans.
Weil aber nun in einer globalisierten Welt die Nation ihre Bedeutung verliert, ist der Mensch offen für neue oder neu-alte Konstruktionen. Die Nachfrage wird gestillt, zum Beispiel durch die Identitätspolitik. Wer Halt sucht, wird es da was finden: „Du bist Schwarzer und gehörst zu den Schwarzen, weil du kein Weißer bist. Du bist eine Frau, weil Männer so sind, wie sie sind. So bist du aber nicht. Du bist Muslim. Und weil Du Muslim bist, gehörst Du zu einer auserwählten Gruppe.“ Solche Gruppenbildungen sind naheliegend, wenn Nationen verschwinden. Ganz wichtig dabei: Man gehört immer zu einer Gruppe, die anders und meist besser ist als andere und außerdem viktimisiert wird.
Das Konstruierte daran wird allerdings schon dann deutlich, wenn man sich mal ernsthaft fragt, was ein Schwarzer im Elend in Lagos mit einem Schwarzen in New York im Penthouse gemein hat. Oder wenn man ein Frauenleben in Somalia mit dem Leben einer Frau in Deutschland vergleicht. Egal! Die Konstruktion muss geglaubt werden, dann passt es schon.
Die Bildung von Nationen hat das Gruppendenken also nicht überwunden. Dieses Denken nimmt nur andere Formen an. Denn wenn sich Bayern und Brandenburger als eine Nation verbunden fühlen, warum nicht alle Frauen oder Schwarzen auf der Welt?
Allerdings bleiben manche Konstruktionen kurios. Wenn man glauben machen will, dass Schwule, Muslime und Schwarze eine Gruppe bilden, um gegen die Gruppe der WAMs zu bestehen, ist das eine Überdehnung. Das wird spätestens dann sichtbar, wenn man den weißen alten Mann wegdenkt. Dieses Konstrukt hat man eben noch nötig, um die offensichtliche Künstlichkeit einer Gruppenzugehörigkeit der Opfer des weißen Mannes zu überspielen. Wenn die WAMS nicht mehr sind, wird man vermutlich wieder die Unterschiede entdecken, wie man das immer schon getan hat.
Die Identitätspolitik ist also so gesehen ein Kind der Globalilsierung. Die Welt überspannende konstruierte Gruppen, die sich befehden, damit sie sich ihrer Identität vergewissern können. Da vermisst man vielleicht am Ende sogar die Konstruktion der Nation. Dort herrschte zumindest in Teilen Frieden innerhalb der nationalen Grenzen. Aber diese Konstruktion haben wir wohl endgültig hinter uns gelassen. Man sortiert sich nun neu.
Christian Kümpel
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