Darf man vielleicht doch canceln?

Ja, gecancelt wurde immer schon. Früher hieß das allerdings anders. Man nannte es abolitis nomines. Bei den Römern wurden die Namen von Kaisern aus der Erinnerung getilgt, die sich übel aufgeführt haben. Zumindest versuchte man es. 2000 Jahre später wurden unter Stalin Kommunisten, die in Ungnade gefallen waren, aus der öffentlichen Erinnerung gelöscht, indem man Fotos veränderte. Das war ein ständiges Retuschieren, denn es konnte jeden treffen und traf am Ende auch Stalin selbst.

Unsere heutige Cancel-Culture kann da nicht ganz mithalten. Jetzt geht es im Wesentlichen nur noch darum, dass man nicht mit Argumenten jemand widerlegt, sondern versucht, eine Person so zu diskreditieren, dass sie nicht mehr öffentlich in Erscheinung treten kann. Als Beispiel dafür gilt die Aktion von Künstlern „Alles dichtmachen“. Es wurde gefordert, TV-Verträge mit den beteiligten Schauspielern aufzukündigen. Darauf zogen einige tatsächlich ihre Beiträge zurück. Andere sollen keine Verträge mehr erhalten. Wer eher unbekannt ist und keine Fürsprecher hat, der kann da schnell unter die Räder kommen.

Canceln heute ist also heutzutage eher konzertiertes Diskreditieren zum Zwecke der Unsichtbarmachung und Verängstigung. Dass es funktioniert, sieht man bei Leuten wie Kathleen Stock, die solange gemobbt wurde, bis sie ihren Posten räumte. Dies, obwohl sie lediglich darauf besteht, dass Männer keine Frauen sein können.

Jetzt hat es auch russische Musiker erwischt, nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Ihnen wird vermutlich zu Recht nachgesagt wird, sie seien Putin-nah. Der Dirigent Valery Gergiev wird deshalb im Westen kaum wieder ein Engagement erhalten, obwohl er wohl ein großer Künstler ist. Und er ist nicht der einzige.

Die Frage ist nun, warum man Leute wie ihn rauskegelt. Zum einen tut man es sicher, weil man sehr empört ist über des russische Verhalten. Und Empörung ist ja in unserer Gesellschaft sehr angesehen, obwohl es im Grunde um eine extrem uncoole Reaktion geht. Man könnte es so übersetzen: Dein Verhalten oder Nicht-Verhalten – die russischen Künstler weigern sich Putin zu verurteilen – bringt mich so aus der Fassung, dass du nie wieder irgendwo erscheinen darfst. So gewinne ich meine innere Balance wieder. Oje, kann man da nur sagen.

Wenn Empörung so etwas ermöglicht, dann darf man sich nicht wundern, wenn immer mehr Menschen ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Hier wird sichtbar, dass Tugenden wie Beherrschtheit, Zurückhaltung und Abstand nicht mehr zeitgemäß erscheinen, weil sie ja keine Macht über andere, sondern nur über sich zum ZIel haben. Heute darf man hysterisch, zornig und aufgeregt sein und gilt dennoch als respektabel. Meine Generation – ich gehöre zum Typus alter weißer Mann – findet das daher eher peinlich und weibisch, zumal man diese Aufgeregtheit nun in Macht übersetzt.

Und natürlich sollte man auch daran denken, dass Canceln der Versuch ist, schnell vergessen zu machen, dass man ja selber Dreck am Stecken hat. Wenn Gergiev gecancelt wird, dann darf man wohl daran erinnern, dass der cancelnde Oberbürgermeister von München, Dieter Reiter, den Dirigenten vor dem Angriff Russlands super fand. Sonst hätte er wohl einer Anstellung bei den Münchner Philharmonikern widersprochen. Plötzlich ist alles anders, obwohl Putin ja auch vorher nicht gerade ein Engel war und Russland nicht gerade ein Hort der Menschenrechte. Anders gesagt: Wer cancelt, der schafft schnell Abstand zu seinen früheren Einstellungen und kann sich vermutlich noch selbst vor Kritik retten, was wiederum ein bisschen an Stalins Russland erinnert.

Schließlich gibt es sicher grundsätzlich das Hochgefühl, als “Jagdgesellschaft” das Wild zur Strecke zu bringen, indem man gemeinsam fordert, jemanden zu canceln und auch noch Erfolg damit hat. Macht ist eben wie eine Droge. Davon können viele nicht genug bekommen und cancelt,, was das Zeug hält. Bei Gergiev hat es geklappt. Der Mucker hat über den Mächtigen gesiegt.

Natürlich habe ich kein Mitleid mit Gergiev. Aber wenn ich gegen Canceln bin, dann kann ich keine Ausnahmen machen, nur weil es aus meiner Sicht den richtigen Mann erwischt hat. Wenn also jemand Kommunist ist und Gemüse verkauft, dann fordere ich niemanden auf, ihn zu boykottieren, und zwar trotz meiner großen Aversionen. Aber ich werde mich nicht mit ihm anfreunden und ihm sagen, dass ich seine Ansichten nicht teile, wenn er mich fragt.

Denn es geht hier nicht nur um richtig und falsch, gut und böse oder Moral, sondern um Regeln, die wir brauchen, damit wir vernünftig zusammenleben können. Und eine wichtige Regel muss lauten: Canceln ist immer und ausnahmslos nicht in Ordnung, egal wen es trifft, auch weil es meist aus niedriger Gesinnung erfolgt. Anders gesagt: Wir müssen das Canceln canceln und verstehen, warum manche canceln. Dann verstehen wir, dass die Gründe meist vorgeschoben und schlecht sind.

Christian Kümpel

Bild: Pixabay

Woke-Kritik von Links: PMC – “Professional-managerial Class”

Hör-Empfehlung für den linken Podcast “Aufhebunga Bunga”, deren britische Autoren das im Frühjahr auch auf Deutsch erscheinende Buch “The End of The End of History” geschrieben haben.

Hier mal ein Beispiel:
George Hoare und Alex Hochuli vom Bunga-Cast führten ein Gespräch mit Trauma-Expertin Catherine Liu über ihre letzten Bücher.
https://youtu.be/befHbT_caS8

Es ging dabei letztendlich um die schon von Andreas Reckwitz beschriebene “Neue Akademische Mittelklasse”.
Doch während Reckwitz dabei eher wohlwollend deskriptiv ist, gehen diese beiden  Linksradikalen Podcast-Akademiker (u.a. Autoren für “jacobin”) und ihre nicht weniger linke Gesprächspartnerin  äußerst kritisch mit der woken  “Professional-managerial Class” ins Gericht. Unter anderem wegen deren moralischen Überheblichkeit und wegen ihres Klassenantagonismus zur sog. “working class” …

Darf ich canceln?

Audianer_innen, Leser:innen oder Schülys… Das sind so die sprachlichen Auswüchse des Genderns. Nun schlägt ein Leser der FAZ vor, gegenzuhalten. Es sei aus seiner Sicht nicht sinnvoll, darauf zu hoffen, dass der Unsinn von allein vorübergeht. Es sei auch nicht vernünftig, sich zurückzuziehen. Man solle dagegenhalten. Aber hilft es, keinen Audi zu kaufen oder zu leasen, Zeitungen abzubestellen, die gendern, und Fernsehsender nicht einzuschalten, bei denen die Moderatoren den Glottisschlag benutzen? Das kann man noch erweitern. Wie wäre es, keine Partei zu wählen, wo gegendert wird? Und wie wäre es, gegen jeden Bescheid zu klagen, der in gendergerechten Sprache verfasst ist?

Meine Antwort: Es wäre richtig! Ich werde mir also keinen Audi kaufen. Natürlich auch, weil ich dafür kein Geld hätte. Das PNN-Abo läuft aus. Und was die Parteien betrifft, muss ich mir noch mal die Programme zum Gendern anschauen. Allerdings treibt es mich um, dass ich nun selbst der Cancel Culture bezichtigt werde. Was ist davon zu halten? Der Blogger mit dem Irokesenschnitt (kulturelle Aneignung der schlimmsten Form), Sascha Lobo meint dazu: „Es gibt eine ganze Reihe von Leuten mit denen würde ich mich niemals auf eine Bühne stellen, und das ist nicht der Untergang der Welt und auch nicht die große Bedrohung durch “Cancel Culture”. Sondern es ist meine freie Entscheidung und mein Teil der Debatte!“ Es geht also darum Grenzen zu ziehen.

Das überzeugt mich! Man sollte eine ziehen, wenn man seine Überzeugungen hat. Und dazu gehört es auch, andere zu boykottieren, um einmal ein altmodisches Wort zu verwenden. Es gibt allerdings ein kleines Problem. Lobo argumentiert aus einer Position der Stärke. Denn Audi, die Zeitungen, Lobo und das Fernsehen haben die Macht. Und ich habe sie nicht. Ich werde also gegen die große Macht canceln, die im Wesentlichen darin besteht, uns die gesellschaftlichen Diskurse vorzuschreiben. Ob ich so viel Macht habe, dass mich jemand hört, muss zwar bezweifelt werden. Aber selbst wenn ich sie nicht habe. Für uns geht es darum, dass wir unsere Würde behalten. Canceln kann uns dabei helfen.

Bild von Michał K. auf Pixabay