Was will es mir denn, wenn jemand meint, die Gesellschaft sei strukturell rassistisch? Da könnte ich doch mit den Achseln zucken. Auf einer sachlichen Ebene würde ich sogar entgegnen, dass solche Behauptungen so gehaltvoll sind wie die Ansicht, Deutschland wäre von Aliens unterwandert. Man kann immer Hinweise finden für alles Mögliche, für jede auch noch so abwegige Theorie, wenn man nur will, indem man bestimmte Ereignisse überbetont und verzerrt. Anders gesagt: Merkwürdige Behauptungen sollten als solche bezeichnet und zurückgewiesen werden.
Doch da ist natürlich auf der Gefühlsebene, auch die Wut, weil hier eine Ungerechtigkeit begangen wird. Deutschland und die Deutschen leben mit vielen Migranten in einem Land, das sich seit 1945 vollkommen verändert hat. Im Großen und Ganzen kommt man gut miteinander aus. Dabei mag es durchaus sein, dass es Rassismus gibt. Aber strukturell? Viele Migranten bekommen Chancen, die sie in ihrem Heimatland niemals hätten bekommen können. Dennoch heißt es: Sie alle seien Opfer des strukturellen Rassismus in Deutschland. Das ist nicht nur Unsinn, das ist auch unfair.
Und dann ist man auch schon beim Thema Frustration. Immerhin hat man sich in diesem Land doch bemüht, indem man das Thema Rassismus in all seinen Schattierungen aufgegriffen hat, indem man in der Schule und an den anderen Lehranstalten immer wieder die Gleichheit der Menschen und den Humanismus als gesellschaftliches Ziel nicht nur proklamiert, sondern auch gelebt hat. Doch die Identitätspolitiker sagen mir – aus Gründen die natürlich zu hinterfragen wären – alles zu wenig und ungenügend. Und vor allem eben: Alles strukturell rassistisch verseucht. Im Grunde ist Deutschland also ein hoffnungsloser Fall. Na wenn das so ist…
Da regiere ich dann mit Trotz, mit dem Gefühl, dass es vergeblich ist, zu erklären und zu verstehen. Sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich bleibe bei meiner Position und verzichte auf weiteres Zuhören. Laut Wikipedia ist der Trotz empfindende Mensch jemand, der sich in einem Zustand des inneren Widerstandes gegen die soziale Umwelt befindet. Da sagt man sich: Wenn sie ihn haben wollen, dann bekommen sie ihn, den widerständigen Trotz! Und dann verschließt man die Ohren und Augen.
Das heroische Gefühl, Widerstand zu leisten, und sich keine Meinung aufdrücken zu lassen. Einfach unbezahlbar. Allerdings sollte man auch nicht übertreiben. Aus Trotz nun das Phänomen Rassismus zu leugnen, das hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Und man liefe geradezu in die Falle, die die realitätsblinden Identitätspolitiker stellen. Die bestünde darin, die Wirklichkeit selbst auch nicht mehr wahrnehmen zu können, aus Trotz. So ließe man sich eben die Weltsicht am Ende doch von den Identitätspolitikern aufdrücken, wenn auch invers.
Es wäre dann, anders gesagt, eben doch so, dass die Identitätspolitiker mit ihrer Polemik die Welt herstellen, die sie vorgeben zu bekämpfen, indem sie Trotz hervorrufen, der die Dinge verzerrt. Denn im Trotz fühlt und sagt man vielleicht Dinge, die fern von dem ist, was man fühlen und sagen würde, wenn man etwas ruhiger wäre. Wir alle müssen hier ein bisschen aufpassen, dass wir nicht in diese Falle der Identitätspolitiker gehen. Denn vermutlich wollen sie uns genau da haben.
Christian Kümpel
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