Haltlos

Was ist eigentlich ein Reaktionär? Das ist ein Mensch, der zu Recht oder zu Unrecht behauptet, dass es eine gottgewollte Ordnung gibt, die man nicht straflos säkularisiert. Zu dieser Ordnung sollte man zurück, wenn es nach dem Reaktionär geht. Doch das ist unwahrscheinlich. Denn aus der gottgewollten Ordnung sind wir schon lange ins Unbekannte aufgebrochen. Und wo es keine numinose Ordnung mehr gibt, da müssen die Menschen selbst eine Ordnung errichten. Ob sie wollen oder nicht. Gelingt das?

Seit Jahren wechseln die Moden und der Zeitgeist wandelt sich stetig. Bei jedem Halt wird behauptet: Das ist jetzt die Wahrheit, wir haben das Ziel erreicht. Doch schon geht die Fahrt weiter. Das einzig Beständige dabei, das ist die Veränderung, wie man so schön sagt. Manche kommen da unter die Züge. Andere meinen, die Veränderung ist der neue Gott. Sie lechzen geradezu danach. Man könnte also sagen: Halt gibt es nicht mehr. Dennoch man braucht doch so etwas wie ein Maßstab, eine Orientierung.

Was so etwas wie Beständigkeit vorgaukelt, das ist die Moral. Sie soll Halt geben in einer haltlosen Zeit. Sie ist, wenn man Dr. Alexander Grau glauben darf, die letzte Bastion der Ungläubigen. Daran klammert man sich, damit man nicht vollkommen durchdreht. Und ihr Glaubensbekenntnis ist die Empörung. Wer sich empört, würde Zeugnis ablegen für seine Sache. Das ist eben die Funktion der Hypermoral, wie Grau sie nach Arnold Gehlen nennt. Sie ist an die Stelle der Religion getreten. Und wie die Religion entlastet sie uns vom Nachdenken. Allerdings, so möchte man hinzufügen, wird die Moral uns nicht erlösen, sondern verstricken, wenn sie sich verselbständigt. Und es gibt nicht nur eine davon, sondern viele. So empört man sich links und rechts und in der Mitte dauerhaft und ständig, um seiner neuen Religion zu frönen und so etwas wie das Unverrückbare vorzugauckeln. Manche würden sagen, dass ist eben der moralische Fortschritt. Ich habe eher den Eindruck, dass ist eine Einbahnstraße ins Nirgendwo. Denn was gestern noch als moralisch galt, ist heute schon Tabu.

Jedenfalls passt die Identitätspolitik auf diese Form der Vergottung der Moral wie die Faust aufs Auge. Denn sie sorgt für Empörungspotential, die auf Dauer gestellt ist. Dicke Kinder, alte Frauen, schwarze Männer oder lesbische Politiker, wer kann da nicht alles gekränkt werden. Und täglich werden neue Minderheiten entdeckt. Dann noch die Quoten, die Bezahlung oder das Gendern. Alles empörend. Und natürlich können das auch die Rechtsradikalen. Man lausche nur den Zornesausbrüchen eines Höcke. Das Material geht einem einfach nicht aus, auch dank der Medien. Sie halten den Betrieb am Laufen. Das Beste daran: Jeder der sich empört, darf sich noch erhaben fühlen. Das kennt man ja auch aus der Religion, wenn es um den heiligen Zorn geht. Und wer sich empört, hat immer recht. Oder kann man etwa mit Empörten diskutieren? Genauso wenig wie mit religiösen Fanatikern.

Früher wollte man cool sein, analytisch. Das ist out. Jetzt wird man irgendwie verrückt. Die Reaktionäre hatten deshalb vermutlich recht, als sie warnten. Aber wie gesagt: Nun ist es zu spät. Jetzt bleibt nur noch die Hypermoral.

Christian Kümpel

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